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Titel
Die Bruderschaft der »Entwickler«. Zur Etablierung der Entwicklungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1956 bis 1974


Autor(en)
Linne, Karsten
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
648 S., 2 Abb.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eric Burton, Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck

In den 1950er- und 1960er-Jahren formierte sich in der Bundesrepublik ein neues Politikfeld: die Entwicklungspolitik. Marksteine dieses Prozesses sind wohlbekannt: die Bildung eines Unterausschusses im Bundestag für die „Wirtschaftsentwicklung fremder Völker“ im Jahr 1956, die Streuung von Entwicklungsagenden auf verschiedenste Ressorts in den Jahren darauf, die Entstehung dutzender Vereine und Initiativen, die Gründung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) 1961 sowie dessen zunehmende Aneignung von Kompetenzen bis hin zur Ära unter dem Minister und SPD-Politiker Erhard Eppler (1968–1974). Karsten Linne vollzieht diese Jahre der Genese und Konsolidierung von 1956 bis 1974 nach und begibt sich auf die Spuren derjenigen, die dieses Feld prägten.

Bei der politischen Orientierung der Akteure sieht Linne ein breites Spektrum, das ehemalige NSDAP-Mitglieder und Funktionsträger der NS-Besatzungsherrschaft (z.B. Friedrich Karl Vialon) ebenso einschließt wie Männer, die über die Solidarität mit der algerischen Unabhängigkeitsbewegung politisiert bzw. für Belange der „Dritten Welt“ sensibilisiert wurden (z.B. Hans-Jürgen Wischnewski). Angesichts von Linnes vorherigen Forschungen zur Kolonialschule Witzenhausen und zu Kolonialplanungen der NS-Zeit1 ist es nicht überraschend, dass er insbesondere Biografien in den Vordergrund stellt und Traditionslinien nachspürt. Hier gibt es durchaus Forschungsbedarf; Hubertus Büschel etwa hatte angedeutet – aber nur anhand vereinzelter Beispiele nachgewiesen –, dass personelle Kontinuitätslinien vom Nationalsozialismus ins Zeitalter der Entwicklung hineinliefen.2 Mit Blick auf das BMZ und weitere Institutionen im Feld kommt Linne jedoch zu dem Schluss, dass es weder ein nennenswertes „koloniales Milieu“ (S. 555) noch signifikante Traditionslinien in die NS-Zeit gegeben habe.

Das Werk vermittelt zahlreiche Fakten über die Lebensläufe und Ansichten derjenigen, die als Politiker im Parlament, als Minister und Staatssekretäre im BMZ, als Wissenschaftler in verschiedenen Disziplinen entwicklungspolitische und -theoretische Impulse setzten. Die entsprechenden Institutionen werden in vielen Fällen knapp porträtiert, neben dem BMZ etwa die parteinahen politischen Stiftungen sowie kirchliche Hilfswerke und staatsnahe „Vorfeldorganisationen“ für Ausbildungsprogramme und Personalentsendung. Auch die Studentenbewegung und die kirchlichen Organisationen werden gestreift; wirtschaftliche und finanziell tätige Akteure – in der Forschung noch am ehesten ein Desiderat – werden ebenfalls knapp behandelt (so etwa die Kreditanstalt für Wiederaufbau). Dass dabei immer wieder Verflechtungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Bereichen sichtbar werden, ist ein Verdienst dieses Buches.

Linne interessiert sich in erster Linie für die Entscheidungsträger auf den höchsten und höheren Ebenen ausgewählter Institutionen. Nur eine Frau schaffte es bis dorthin (und damit in das Buch): die Soziologin Gabriele Wülker, die in den 1930er-Jahren NS-Volkskundeforschungen betrieben hatte und 1957 zur ersten Staatssekretärin in der Bundesrepublik wurde – im Familienministerium, nicht im BMZ. Bei ihr fällt auf, dass sie (folgt man Linnes Zusammenfassungen der Gedanken anderer Personen) auch die Einzige war, die bei ihren entwicklungspolitischen Überlegungen Geschlechterbeziehungen thematisierte. Bei den Männern waren Familienplanung und die Reduktion des Bevölkerungswachstums zwar oft genannte Ziele, aber darüberhinausgehende Diskussionen zur „Rolle der Frau“ gab es kaum. Grundsätzlich waren diese Entscheidungsträger und Multiplikatoren Anhänger von Spielarten der Modernisierungstheorie mit verschiedenen Schwerpunkten – Landwirtschaft, Industrialisierung, Ausbildung. Ab Mitte oder Ende der 1960er-Jahre kamen manchen Akteuren Zweifel am Wachstumsdenken und am Nutzen von Entwicklungshilfe; Kapitalismuskritik blieb jedoch selten. Interessant wird es vor allem bei jenen Personen, für die auch relevante Erfahrungen aus der Zeit vor 1945 zur Sprache kommen. So waren einige Protagonisten schon in den 1930er-Jahren als Berater in der Türkei oder in Mittelamerika tätig gewesen. Der Agrarwissenschaftler Otto Schiller hatte in den 1920er-Jahren in der UdSSR geforscht und war in der NS-Zeit dann für landwirtschaftliche Vorhaben in der Sowjetunion zuständig gewesen – und dabei auch mitverantwortlich für die nationalsozialistische Hungerpolitik in den besetzten Gebieten. Später profilierte er sich als antikommunistischer Befürworter von Genossenschaften und realisierte für die Welternährungsorganisation FAO in Südasien Pläne, die zum Teil aus seiner Zeit in Russland stammten.

Was lässt sich aber aus derartigen Lebensläufen schließen? Die vielen Biografien sind mit bemerkenswertem Fleiß recherchiert, ihre Fülle und das Fehlen von Übergängen geben dem Werk jedoch einen enzyklopädischen Charakter. Es ist nicht chronologisch oder thematisch, sondern nach Institutionen und Einzelakteuren gegliedert, sodass sich weder ein Lesefluss noch ein narrativer oder argumentativer Zusammenhang ergeben wollen. So werden etwa die Biografien und Schwerpunkte der drei BMZ-Minister Scheel, Wischnewski und Eppler referiert, gefolgt von Ausführungen zu den Staatssekretären, mit denen man wieder in die Ära Scheel zurückgeworfen wird. Im Kapitel 7 („Die Entwicklung des BMZ“) sowie Kapitel 11 („Reale Politik“) findet sich der ministeriale Dreischritt jeweils erneut. Das führt zu Redundanzen und lässt das Fehlen einer stringenten Analyselogik umso stärker ins Auge fallen. Die entwicklungspolitischen Ideen der Akteure werden meist nüchtern und beschreibend dargestellt. Nach den vielen aneinandergereihten Lebensläufen wirkt das erste Zwischenfazit zur Hälfte des Buches (ab S. 330) wie eine Oase. Hier werden die Biografien hinsichtlich ihrer Generationszugehörigkeit, sozialen Herkunft und Konfession aufeinander bezogen sowie nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden befragt. Linne konstatiert, dass eine bemerkenswert große Gruppe aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten stammte oder im Ausland geboren wurde. Leider bleibt es bei dieser Feststellung – eine Interpretation, was diese interessante Beobachtung nun über das entwicklungspolitische Feld aussagt, bleibt der Autor schuldig, wie überhaupt der Gewinn des biografischen Ansatzes nicht deutlich wird.

Dank der ausführlichen Darstellung einzelner Lebensläufe und Positionen lassen sich aber durchaus neue Erkenntnisse oder zumindest Ansatzpunkte für Fragen gewinnen. Zwei Beispiele: Mehrere Akteure erwähnten in Schriften oder Interviews, dass ihnen erst bei eigenen Reisen durch „Entwicklungsländer“ – konkret genannt werden zum Beispiel Griechenland, Indien, die Türkei – das Ausmaß von Armut und bestimmte Probleme bewusst geworden seien.3 Diese Reiseerfahrungen im Ausland wurden in späteren Erinnerungen als entscheidender Impetus für Initiativen und Institutionalisierungen dargestellt, paradigmatisch bei Eppler, der seine Wachstumskritik mit dem vorherigen Anblick der Skelette verdursteter Rinder in der Sahelzone verband (S. 122). Hier ließe sich quellenkritisch fragen: Handelt es sich dabei um ein Klischee, um eigene politische Ansichten als wahrheitsnah und legitim auszuweisen? Wie verhält sich die Kategorie persönlicher Erfahrung zur Forderung, Entwicklungspolitik auf wissenschaftliche Füße zu stellen? Ein weiterer auffälliger Aspekt ist, dass viele Akteure schon in den frühen 1960er-Jahren die „Entwicklungshilfe“ nicht primär (bzw. nicht allein) als Waffe in der Ost-West-Auseinandersetzung verstanden, sondern vor allem die Nord-Süd-Kluft als globale Konfliktachse in den Vordergrund stellten. Konservative wie sozialdemokratische Vertreter führten einen „sozialen Weltbürgerkrieg“ als virulentes Motiv für die Notwendigkeit eines entwicklungspolitischen Engagements ins Feld, da dieser Unterschied langfristig entscheidender sei als der Systemkonflikt – selbst als das Reden vom Nord-Süd-Konflikt noch eher unüblich war.

Mit Blick auf aktuelle Forschungstrends wirkt Die Bruderschaft der »Entwickler« aus der Zeit gefallen. Der Blick bleibt stets den Perspektiven der männlichen Eliten verhaftet, und das oft unkritisch. Der Einfluss internationaler Organisationen wird a priori aus Platzgründen ausgespart (S. 55); Forschungsreisen haben Linne zu zahlreichen Archiven geführt, die jedoch allesamt innerhalb der Landesgrenzen liegen. Eine argumentative Auseinandersetzung mit aktuellen Debatten zum Thema findet nur ansatzweise statt; das beeindruckend umfangreiche Literaturverzeichnis enthält fast ausschließlich deutsche Titel. Das ist nicht per se problematisch, aber es erklärt den etwas verengenden Blick auf die bundesdeutsche Entwicklungspolitik und Linnes Schlussfolgerung, dass diese trotz aller Einbindung in internationale Zusammenhänge vor allem aus internen Faktoren erklärbar sei (S. 557–565). Das ist ein Kontrapunkt zum aktuellen historiografischen Trend, westliche Entwicklungskategorien und -praktiken mit jenen in der sozialistischen Welt und im Globalen Süden zu verknüpfen und so nach systemübergreifenden Zirkulationen, globalen Austauschbeziehungen sowie Abgrenzungen und Rückwirkungen aus der Praxis zu fragen.4

Daher bleibt als Fazit: Wenn es sich bei dieser heterogenen Gruppe von „Entwicklern“ um eine „Bruderschaft“ gehandelt haben sollte, dann war es bestenfalls eine Gesinnungsgemeinschaft, wobei diese Gesinnung nur unscharf konturiert und mit verschiedenen politischen Ansichten vereinbar war. Karsten Linne hat ein umfangreiches, eher deskriptives Buch zur Genese des entwicklungspolitischen Feldes in der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt, das keine Neuinterpretation dieses Feldes bietet, aber als Nachschlagewerk für die Biografien zahlreicher westdeutscher Akteure und Institutionen wertvolle Dienste leisten wird.

Anmerkungen:
1 Karsten Linne, Von Witzenhausen in die Welt. Ausbildung und Arbeit von Tropenlandwirten 1898–1971, Göttingen 2017; ders., Deutschland jenseits des Äquators? Die NS-Kolonialplanungen für Afrika, Berlin 2008.
2 Büschel bezog sich dabei nicht auf Politiker oder Funktionäre, sondern auf Experten, von denen „manche […] bereits im Nationalsozialismus steile Karrieren gemacht hatten“: Hubertus Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960–1975, Frankfurt am Main 2014, S. 274.
3 Linne geht im Zwischenfazit (S. 334) mit einem kurzen Absatz auf das Reisen ein, allerdings nicht in diesem Sinn.
4 Linnes Schlussbetrachtung ist in dieser Hinsicht etwas widersprüchlich; der Großteil des Buches betont jedenfalls eher „interne“ Faktoren. Für einen Überblick zum Forschungsfeld siehe Artemy M. Kalinovsky, Sorting Out the Recent Historiography of Development Assistance. Consolidation and New Directions in the Field, in: Journal of Contemporary History 56 (2020), S. 227–239, URL: <https://doi.org/10.1177/0022009420962315> (14.02.2022); Martin Rempe, Ambivalenzen allerorten. Neue Forschungen zur Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit, in: Archiv für Sozialgeschichte 58 (2018), S. 331–352, URL: <https://www.fes.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=46556&token=8dec6edc265b2acdc3ecbfe8fa9dd4fce02d2cc2d4fce02d2cc2> (14.02.2022).

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